Beginn in der Schlucht – wo Geologie Geschichte erzählt

Mein Weg beginnt in der Gola del Bottaccione, einer engen, eindrucksvollen Schlucht nördlich von Gubbio (Perugia, Italien). Zwischen den Hängen des Monte Ingino und des Monte Foce öffnet sich hier ein Natur- und Geschichtsraum mit Bedeutung weit über Umbrien hinaus. In den Felswänden dieser Schlucht erkennt man die sogenannten Sedimentschichten, das sind in der Erdgeschichte übereinander abgelagerte Gesteinsschichten, die sich über Millionen von Jahren gebildet haben.
In einer dieser Schichten entdeckten Forscher in den 1970er-Jahren eine erhöhte Konzentration von Iridium, einem seltenen chemischen Element, das auf der Erde kaum, in Meteoriten aber häufig vorkommt. Dieser Befund führte zur sogenannten Alvarez-Hypothese: der Annahme, dass ein Meteoriteneinschlag vor etwa 66 Millionen Jahren zum Aussterben der meisten Dinosaurier führte. Damit ist die Gola del Bottaccione ein Schlüsselort für das Verständnis eines der größten Umbrüche der Erdgeschichte, der Kreide-Paläogen-Grenze (kurz: K/Pg-Grenze), also dem geologischen Übergang zwischen der Zeit der Dinosaurier und der darauf folgenden Erdperiode.

Ich folge dem Weg des Wassers – das mittelalterliche Aquädukt
Von der Gola del Bottaccione aus führt ein schmaler Weg entlang des alten Aquädukts von Gubbio. Ein Aquädukt ist eine künstliche Wasserleitung, meist aus Stein gebaut, mit leichtem Gefälle, um Wasser über weite Strecken in eine Stadt zu leiten. Dieses Bauwerk stammt aus dem 13. bis 14. Jahrhundert und ist ein Meisterstück mittelalterlicher Ingenieurkunst.
Der Ursprung liegt bei einem kleinen Sammelbecken, dem sogenannten bottaccio, von dem sich auch der Name der Schlucht ableitet. Das Wasser floss einst durch Kanäle und gemauerte Leitungen, teils offen, teils im Felsen eingelassen, etwa eineinhalb Kilometer bis in die obere Stadt. Der Höhenunterschied wurde präzise berechnet, damit das Wasser in stetigem Gefälle laufen konnte – ohne Pumpen, allein durch die Schwerkraft.
Fremdwort erklärt – hydraulische Ingenieurkunst:
„Hydraulisch“ bedeutet, dass ein System mit Wasser arbeitet. „Ingenieurkunst“ bezeichnet das technische Können beim Bau solcher Anlagen. Zusammen beschreibt es das Wissen und die Handwerkskunst, die nötig war, um Wasser durch die Landschaft zu leiten.

Das mittelalterliche Aquädukt von Gubbio verläuft am Hang des Monte Ingino, auf der östlichen Seite der Gola del Bottaccione. Der Weg auf dem Aquädukt ist heute ein begehbarer Panoramaweg. Die ursprüngliche Wasserleitung verläuft direkt unter den Steinplatten, auf denen ich laufe. Von hier oben blickt man nicht nur auf eine Landschaft, sondern auf ein Stück Technikgeschichte.
Im Mittelalter war dieses Aquädukt lebenswichtig: Es versorgte Gubbio zuverlässig mit Trinkwasser. Für eine Stadt, die auf einer Anhöhe liegt, war das eine enorme logistische Leistung. Öffentliche Brunnen, Haushalte, Handwerksbetriebe und sogar der Palazzo dei Consoli, das repräsentative Rathaus, wurden über diese Leitung versorgt.

Ankunft in der Stadt – das Wasser und der Stolz von Gubbio
Der Weg endet in der oberen Altstadt von Gubbio. Hier wird klar, warum der Bau des Aquädukts weit mehr war als ein technisches Projekt: Er war Ausdruck städtischer Selbstständigkeit und des Wohlstands einer freien Kommune im Mittelalter. Die Fähigkeit, sauberes Wasser in die Höhen der Stadt zu bringen, war Symbol für Fortschritt und Ordnung.
Heute ist das Aquädukt nicht mehr in Betrieb, doch sein Verlauf ist vollständig erhalten. Er dient als beliebte Wanderroute und als Mahnmal für nachhaltige Ressourcennutzung – denn das mittelalterliche System arbeitete ohne Energieverbrauch, allein durch die sorgfältige Nutzung der natürlichen Topographie.
Wenn man von der Gola del Bottaccione über das Aquädukt bis in die Stadt läuft, folgt man also nicht nur einem Wanderweg, sondern dem „Weg des Wassers“, der Gubbio über Jahrhunderte mit Leben versorgt hat.
In kaum einer anderen Landschaft Italiens liegen Natur, Wissenschaft und Geschichte so dicht beieinander wie zwischen der Gola del Bottaccione und Gubbio. (AR 09/2025)

Quellennachweis:
umbriatourism.it, tripadvisor.it, artbonus.gov.it, wikipedia.org